Die Steinstrasse im Hunholt
Von Vikar J. Schackmann, Haus Assen
In den im 20. Bande der Zeitschrift des „Vereins für Geschichte und Altertumskunde Westfalens“ vom Jahre 1859 veröffentlichten Tagebuchnotizen usw. des Oberstleutnants F. W. Schmidt wird von einer alten Steinstraße berichtet, die im Jahre 1815 in der Gemeinde Lippborg gefunden und ausgegraben sein soll.
Schmidt bereiste in den Jahren 1838, 39 und 41 die hiesige Gegend in der Absicht und Hoffnung, auf Grund früherer „Notizen über den Fundort römischer Altertümer“ die ihm nach seinen eigenen Worten für seine weiteren Untersuchungen als „Wünschelrute dienen“ sollten, „Überreste von Straßen, vielleicht selbst von römischen Befestigungen zu finden“.
Hierbei erfuhr er in Lippborg durch einen alten Holzwärter, den er Bicker nennt, ein an der nördlichen Grenze der Gemeinde Lippborg gelegener, dem Grafen von Galen zu Haus Assen gehörender Waldbezirk. Dort, längst eines das Hunholt von Westen nach Osten durchziehenden Höhenrückens, sei man im Jahre 1815 auf jene Steinstraße gestoßen. Bestehend aus größeren und kleineren, durch Lehm, Klei usw. verbundenen Kieselsteinen, habe dieselbe in einer Dicke von 1-1½ Fuß tief unter der Oberfläche gelegen.
Die Straße sei in einer Länge von mehr als einer halben Stunde ausgegraben und die Steine zu Pflasterungen und anderen Bauten auf Haus Assen verwendet worden. In Übereinstimmung mit diesem Funde habe auch im Bolke eine alte Überlieferung von einer von Dolberg über Wintergalen nach dem Hunholt sich hinziehenden Heidenstraße bestanden.
Seit der Veröffentlichung dieses Schmidtschen Berichtes findet sich die Steinstraße im Hunholt mehrfach in der einschlägigen Literatur, so bei J. Schneider, „Die römischen Militärstraßen an der Lippe“ S. 15- Nordhoff, „Der Holz- und Steinbau Westfalens“ 2. Aufl. S. 144; auch haben Nordhoff und Westhoff sie in ihre Karte im 53. Bande der Westfälischen Zeitschrift aufgenommen.
Bei der Wichtigkeit, die einer solchen Straße, wenn sie wirtschaftlich bestanden haben sollte, im Interesse der Geschichtsforschung beizumessen wäre, dürfte es nicht ganz unnütz sein, den Fundbericht auf seine tatsächliche Unterlage hin einer Prüfung zu unterziehen.
1.
Grundlegend für die Beurteilung des Schmidtschen Fundberichtes ist die Feststellung, daß Schmidt selber nicht Augenzeuge des Fundes und der Ausgrabung der Straße war, sondern sich ganz auf den Bericht des Holzwärters stützt. Schmidt weilte in Lippborg zwischen 1838 und 1841, also immerhin rund 25 Jahre nach der angeblichen Ausgrabung der Straße; er selber hat offenbar die Straße nicht mehr gesehen. Der Weg, auf den er eine halbe Stunde weiter westlich stieß – vermutlich der von Wintergalen zwischen Romelshof und dem Steinort, auf dem einst das von Borggrewe im 33. Bande der Westfälischen Zeitschriften beschriebene Steingrab sich befand, sich nach Südwesten hinziehende alte Weg – kann als Beweis für die Ausgrabung einer Steinstraße im Hunholt doch nicht in betracht kommen. Wir bleiben also für unsere Untersuchung angewiesen auf die Erzählung der Holzwärters Bicker und haben sie auf ihre Richtigkeit zu prüfen.
2.
Nach dem Bickerschen Bericht findet die beim Aufbruch der Straße im Hunholt ausgehobenen Steine nach Schloß Assen gebracht und hier zur Pflasterung und anderen Bauten verwendet worden. War die ausgegrabene Straßenstrecke eine halbe Stunde lang, 14 Fuß breit und 1 bis 1½ Fuß dick, so ergäbe das eine Steinmenge von mehr als 3000 cbm.
Man möchte meinen, wenn es wirklich wahr wäre, daß vor hundert Jahren eine so ungeheure Steinmasse nach hier gebracht worden sein soll, würde entweder dieselbe sich auch heute noch wenigstens großenteils nachweisen lassen, oder es würde doch über ihren Verbleib irgend eine Erinnerung bestehen.
Nun finden sich auf den Schloßhöfen von Haus Assen zwar neben anderen auch Kieselsteinpflasterung in einer Gesamtausdehnung von etwa 350 qm mit nur einfacher Steinlage; und und eine alte Dame wußte zu berichten, diese Steine rührten von einer Straße her, die einst vom Schlosse zum Hunholt geführt habe (sic!).
Wir haben also hier einen Berührungspunkt zwischen der heutigen Wirklichkeit und dem alten Fundbericht, freilich mit einer Verwechslung betreffs des Laufes der Straße. Aber was sind denn die 350 qm dünner Pflasterung gegenüber 3000 cbm, die einst hierher gekommen sein sollen?
Und wenn man auch annehmen will, daß ein Teil der Steine möglicherweise bei Neubauten, wie sie im verflossenen Jahrhundert auf Assen mehrfach vorgekommen sind, zu Fundamentierungsarbeiten oder auch zu anderen Zwecken gebraucht worden seien, so könnte auch die hierzu verwandte Menge nur einen geringen Teil jener 3000 cbm ausmachen.
Wo blieb die übrige große Masse von Steinen? Sie ist verschwunden, ohne daß irgend eine Erinnerung an sie erhalten geblieben wäre. Wie ist das zu Erklären? –
Im übrigen sei hier bemerkt, daß in früherer Zeit in hiesiger Gegend der Boden vielfach mit Kieselsteinen übersäet und stark durchsetzt war, sodaß z. B. beim Bau der alten Chaussee von Lippborg nach Beckum in den vierziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts die Bauern diese Steine von ihren Äckern fuhrenweise herbeischafften.
3.
Ähnlich wie mit der Erinnerung an den Verbleib der Steine verhält es sich auch mit der Kenntnis von der Existenz und der Ausgrabung der Straße selber. Der Schreiber dieser Zeilen hat seit mehreren Jahren hierüber bei den älteren Leuten der Gemeinde Lippborg Nachfragen angestellt. Was zunächst Haus Assen angeht, so ist, abgesehen von obengenannter Reminiszenz, die Straße hier unbekannt. Auch in der noch heute hart am Hunholt wohnenden Familien des ehemaligen Holzwärters Bicker, wie Schmidt schreibt, oder, wie der Name in Wirklichkeit heißt, Bücker, hatte niemand, auch nicht der kurz vor dem Weltkriege gestorbene Enkel des von Schmidt genannten Holzwärters, selbst nur die geringste Kenntnis von der Straße und ihrer Auffindung.
Der Besitzer des im Schmidtschen Berichte erwähnten Bauernhofes Hessing, an dem die Straße vorbeigegangen sein soll, hatte zwar gehört, daß einst eine Straße durch das Hunholt gegangen sei, weiß aber nichts von einer Ausgrabung und gefundenen Steinen.
Der einzige, der von dem Steinfunde wußte, ist ein in der Nähe des Hessingschen Hofes im Brüggenfelde wohnender Kötter; über die Menge der Steine jedoch und über den Umfang der Ausgrabung war ihm nichts bekannt. Im übrigen ist m. W. sowohl auf Haus Assen wie in der Gemeinde Lippborg jede Erinnerung an die Straße und die Ausgrabung der Steine vollständig verschwunden.
4.
In der Mitte des verflossenen Jahrhunderts, von 1830 bis 1874, wirkte in Lippborg Pfarrer Didon. Die älteren Leute der Gemeinde erzählen noch heute von dem Interesse, das dieser allseitig tätige Mann den Überbleibseln der Vergangenheit, die sich in Lippborg verhältnismäßig zahlreich finden, entgegenbrachte.
Zeugnis hiervon legt neben anderen hinterlassenen Notizen auch insbesondere ab eine von seiner Hand verfaßte, jetzt im Pfarrarchiv befindliche Chronik Lippborgs, in der er nicht nur die während seiner Amtszeit vorkommenden Ereignisse aufführte, sondern auch alle Erinnerungen an die Vergangenheit mit Sorgfalt zusammenstellt.
So berichtet er von Romelik und Romelshof, von den Lagern im Havirbrock und im Bröggel, von dem Hügel bei Grünnewigs Hof, spricht die damals mehrfach vertretene Vermutung aus, das bis heute noch gesuchte Aliso sei in Lippborg gewesen usw. Auch die Überlieferung von der alten Heidenstraße ist ihm zu Ohren gekommen; er schreibt darüber:
„Wahrscheinlich hat sich auch durch den nördlichen Teil des Kirchspiels von Westen nach Osten eine alte Römerstraße hergezogen“.
Aber das ist auch alles; über die Ausgrabung der Straße findet sich kein Wort, obschon in der Chronik sonst von 1800 an sehr genau auch unbedeutende Dinge erzählt werden.
Wie ist das zu erklären? Wenn die Ausgrabung wirklich auf einer Strecke von einer halben Stunde stattgefunden haben sollte, so ist es doch wohl unmöglich zu nennen, daß Didon nicht davon gehört hätte; hörte er aber davon, warum berichtet er es nicht? Ja, dann konnte er nicht schreiben: „Wahrscheinlich“, sondern dann war die Existenz der Straße eine unanfechtbare Tatsache.
5.
Der im Beginn der 19. Jahrhunderts erscheinende „Hermann, Zeitschrift von und für Westfalen“ brachte im 55. Stück unter dem 10. Juli 1818 einen Artikel „vom Eremiten am Arnsberger Walde“, in dem der Verfasser folgendes schreibt:
„Der Eremit witterte seit vorigem Jahre Morgenluft, als bei der Anlage einer neuen Windmühle eine halbe Stunde westwärts von Lippborg alte Töpfe (ollae) in der Erde gefunden sein sollen. Der Eremit reiste Montags 2. Juni nach Lippborg, verschaffte sich vom Bürgermeister Geißler zur Assen die Erlaubnis zu graben und begann Dienstags das Graben“. Nachdem „der Eremit“ dann vom Schlosse Assen gesprochen, fährt er fort: „In der Nähe des Rittergutes, wo der Boden Kleiartig ist, so erzählte mir der gefällige Herr Bürgermeister, finde sich im Hunnenholte noch eine östlich streichende Strecke mit Kiesel gepflasterten Römerweges, der jetzt mehrenteils ein Paar Schuh tief gesunken“. – Hier haben wir zum ersten Male außer dem Schmidtschen Berichte eine mit der Ausgrabung fast gleichzeitige Nachricht über die Existenz der Straße im Hunholt, wenn sich auch Genaueres und insbesondere eine Bestätigung der Ausgrabung aus ihr nicht entnehmen läßt.
6.
Es würde zu behrüßen sein, wenn benen den bisher angeführten Berichten, die sich ohne Ausnahme auf die Aussagen dritter Personen stützen, ein direktes, authentisches Zeugnis von der Assenschen Verwaltung, welche die Ausgrabung vornehmen ließ, beigebracht werden könnte. Ein solches liegt vor.
Der soeben genannte Bürgermeister Geißler, der von 1804 bis 1823 Rentmeister auf Haus Assen war und in der französischen Zeit zugleich Maire und später Bürgermeister der Gemeinde Lippborg, ist der Urheber einer zweiten Chronik, die, zwar nicht geschrieben, aber unterschrieben von seiner Hand, als eine Art Amtschronik bezeichnet werden muß und als solche im Amtshause zu Beckum aufbewahrt wird.
Umfassender und eingehender als die Chronik Didons, führte sie, nachdem sie zunächst die in Lippborg sich findenden Denkmäler der Vergangenheit sowie eine große Fülle geschichtlicher Ereignisse aus der Zeit vor 1800 zusammengetragen, von 1800 an bis zum Jahre 1823 Jahr für Jahr aus das genaueste alle Geschehnisse in der Gemeinde auf.
Was berichtet denn nun Geißler als Wissender von der Ausgrabung unserer Straße?
Im Jahre 1815 zunächst, in dem nach Schmidt die Ausgrabung geschehen sein soll, nichts. Aber unter dem Jahre 1812 findet sich im Anschluß an den Bericht über den schon im „Hermann“ erwähnten Urnenfund folgende Notiz:
„Sollten diese (Urnen-) Hügel, welche sich in der Richtung von Osten nach Westen darstellen, dereinst als Römerstätte näher erkannt werden, dann würde die frühere Vermutung, daß vielleicht im Dorf Lippborg, wo jetzt die Kirche steht, ob sonst in der Nähe von Lippborg das Castellum Lupiae, Castellum ad Luppiam (Burg an der Lippe, Lippborg), wovon römische Geschichtsschreiber melden, gewesen sei, dadurch bestärkt werden. Man kann hiermit die Tatsache in Verbindung setzen, daß im Jahre 1808 bei Anwesenheit des abgelebten Grafen von Galen in dessen Waldung das Huenholt genannt, eine mit aneinander gelegten Kieseln besetzte Fläche, ungefähr zur Größe einer Quadrat-Ruthe, wobei man sogar noch einige in die Kante gesetzte Grenzsteine als Schlußsteine des geglaubten Steinpflasters gut unterscheiden konnte, entdeckt worden ist.
Es mag zur Zeit noch dahingestellt bleiben, ob man hier die Richtung einer Römerstraße zum Beispiel von Stromberg durch das Hunenholt bei Günnewigs Hof über den Hölschers Knapp (Fundort der Urnen) nach der Lippe hin vermuten könne.“ –
Soweit der Geißlerische Bericht, die einzige Stelle in der ganzen Chronik, wo von der Steinstraße in Hunholt die Rede ist.
7.
Nachdem wir hiermit den letzten unserer Zeugen über die Ausgrabung der Straße im Hunholt haben zu Worte kommen lassen, erhebt sich die Frage: Welches ist nun das Endergebnis unserer Untersuchung?
Es dürfte keinem Zweifel unterliegen, daß wir in dem Geißlerschen Berichte den wahren Kern der ganzen Erzählung über die Ausgrabung der Straße vor uns haben.
Denn daß weder vor noch nach dem Jahre 1812, wenigstens bis zum Jahre 1823, dem Schlußjahre der Chronik, von einer anderen Ausgrabung auf eine halbe Stunde die Rede sein kann, liegt bei der genauen, auch das Unbedeutende heranziehende Art der Chronik auf der Hand.
Es ist also Tatsache, daß im Hunholt, zwar nicht 1815, aber 1808 eine Kieselsteinpflasterung ausgegraben worden ist; jedoch darf es als ebenso sicher gelten, daß sich diese Ausgrabung nicht auf eine halbe Stunde weit, sondern auf eine Quadratrute erstreckte.
Schmidt ist diesbezüglich anscheinend ein Opfer seiner „Wünschelrute“ geworden; dabei ist es für die Sache nicht von Belang, ob sein Irrtum auf gewollter oder ungewollter Täuschung beruht; jedoch dürfte letzteres, zumal wenn Schmidt vielleicht des Lippborger Dialekts nicht mächtig war und in Verbindung mit der Straße in Hunholt von jener anderen eine halbe Stunde weiter westlich gesprochen wurde, nicht ganz außerhalb des Bereiches der Möglichkeit liegen.
Durch den geringen Umfang der Ausgrabung erklärt sich auch, wie die Erinnerung an sie wie an den Verbleib der Steine fast völlig aus dem Volke schwinden konnte.
Die Frage freilich nach der Bedeutung der ausgegrabenen Pflasterung ist durch unsere Feststellung nicht gelöst; sie ohne weiteres für römisch auszugeben, dafür fehlt jedoch jede Beweisunterlage. Vielleicht würde eine gründliche Untersuchung des in der Nähe liegenden alten Walllagers im Havirbrock, die noch auf sich warten läßt, etwas Licht in diese Frage bringen.
LXXVIII. 1.
Aus: Zeitschrift für vaterländische Geschichte und Altertumskunde. Herausgegeben von dem Verein für Geschichte und Altertumskunde Westfalens Regensbergsche Buchhandlung und Buchdruckerei, 78. Band, Münster 1920
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